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        Zäsur ist der Moment, in dem Don Vito Lupo, italienischer 
        Seelsorger in der Italienischen Katholischen Gemeinde Limburg-Wetzlar, 
        die vergangenen 50 Jahre dokumentiert und analisiert, nicht zuletzt auch, 
        um Informationen aus dieser Zeit zu sichern, bevor sie verloren gehen.Don Vito Lupo will mit seinem Werk veranschaulichen, dass die Seelsorge 
        der vergangenen Jahrzehnte in den italienischen katholischen Missionen 
        eine kreative und angemessene Antwort war und ist auf die große 
        Herausforderung, welche die Migration der Italiener nach Deutschland darstellte.
 Die Geschichte der 
        ital. EinwanderungIn einem geschichtlichen Abriss erzählt Don Vito Lupo von der italienischen 
        Einwanderung nach Deutschland seit dem 18. Jahrhundert.
 Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verständigten sich Lorenz 
        Werthmann, Gründer des Deutschen Caritasverbandes, mit Bischof 
        Geremia Bonomelli von Cremona, einem der in Sachen Emigration besonders 
        engagierten Bischöfe Italiens, und dem Gründer des St. Raphaelsvereins 
        für Auswanderer, Peter Paul Cahensly, auf Grundlinien für 
        die Seelsorge an italienischen Migranten in Deutschland, die sich teils 
        bis heute durchziehen. Dazu gehört beispielsweise die Kooperation 
        von Seelsorge und Caritas. Die erste Mission wird 1896 in Konstanz 
        gegründet.
 Um 1904 gab es immerhin 104204 Italiener in Deutschland.
  Vom „Gastarbeiter“ 
        zum „Italienischen Mitchristen“Doch die große Herausforderung kommt erst Mitte der 50er Jahre des 
        20. Jahrhunderts.
 Rund 100 000 Italiener, vor allem Männer, machen sich zwischen 1955 
        und 1960 auf den Weg nach Deutschland; 1973 sind es bereits 450 000; heute 
        hat sich die Zahl bei etwa 630 000 stabilisiert. Vor allem aus Süditaliens 
        Regionen (Kampanien, Abbruzzen und Molise, Apulien, Basilikata, Kalabrien, 
        Sardinien, Sizilien) kam die überwiegende Mehrzahl der Emigranten. 
        Das hatte geschichtliche, soziale, wirtschaftliche und politische Gründe, 
        wie Don Vito ausführlich beschreibt
 (S. 50 – 72).
 Die italienische und die deutsche 
        Kirche trifft diese Zuwanderung nicht unvorbereitet. Von Anfang an wird 
        diese Wanderungsbewegung seelsorgerlich begleitet. Bald entwickeln sich 
        tragfähige Strukturen: Im Zusammenspiel von deutschen und italienischen 
        Diözesen, von Ordensgemeinschaften und einzelnen Missionen koordiniert 
        der Nationaldirektor, später: Delegat, den Aufbau 
        der Gemeinden und den Einsatz von Priestern und Ordensschwestern (S. 95 – 99). Auch die 
        Gründung der Zeitschriften La Squilla und später (1963) Corriere d’Italia ist eine Antwort auf die Notwendigkeit, der 
    neuen Situation Strukturen zu geben (S. 100ff).  |  | "Während 
        den 35 Jahren meines Aufenthalts in Deutschland habe ich erlebt, wie Tag 
        für Tag, zusammen mit anderen Mitbrüdern, etwas aufgebaut wurde, 
        was es so zuvor nicht gab: Eine Seelsorge für die Migranten. Dieses 
        Massenphänomen Emigration war in Italien genausowenig verstanden 
        worden wie in Deutschland. Es handelte sich um hunderttausende Personen, 
        die von Italien weggingen, vor allem aus dem Süden, und keiner sprach 
        davon. Ich erinnere mich, dass ich nach Deutschland kam, um Ferien zu 
        machen. Als ich dann die große Dringlichkeit sah, entschied ich 
        mich zu bleiben und war u.a. als Arbeiter in Neuss tätig. Für 
        jeden von uns Priestern war die Emigration eine große Erfahrung."...
 "Die Sprache der Pastoral musste sich notwendigerweise an die eingewanderten 
        Arbeiter anpassen, und das ist uns gelungen."
 ...
 "Es gibt heute auch viele deutsche Seelsorger, die beginnen, die 
        Volksreligiosität zu begreifen und neu zu schätzen."
 (Autor don Vito Lupo, 
    befragt von Mauro Montanari in CORRIERE D'ITALIA, Januar 2006, S. 13) | 
   
    |  | Jährlich finden Nationaltagungen der italienischen Seelsorger 
          statt. Die Themen dieser Tagungen spiegeln die jeweiligen Schwerpunkte 
          und Nöte der Seelsorge in den Missionen, behandeln aber auch grundsätzliche 
          Fragen von Emigration und Kirche (S. 519 – 524). Nun folgt – quasi als Hauptteil des Buches - die ausführliche 
          Dokumentation der italienischsprachigen Seelsorge der letzten 50 Jahre, 
          wie sie sich in den 103 Missionen konkretisiert, die über ganz (West-) 
          Deutschland sowie Berlin verteilt sind, illustriert mit 171 s/w-Fotos. 
          Nach Bistümern geordnet wird die Geschichte einer jeden einzelnen 
          Missione erzählt und dokumentiert. Dabei versteht es Don Vito, 
          die Besonderheiten einer Gemeinde hervorzuheben. Er beleuchtet aber auch 
          kritisch, warum sich manche Missionen sehr zum Positiven entwickelt und 
          andere weniger erfolgreich gewirkt haben; dabei nimmt er durchaus Rücksicht 
          auf die häufig noch lebenden Akteure. Drei Phasen lassen sich für diese fünfzig Jahre Seelsorgsgeschichte 
          herausfiltern, wie Padre Gabriele Parolin, Delegat in den Jahren 
          1998 - 2005, in seinem Vorwort aufzeigt:In der ersten Phase kommen vor allem Männer, die seelsorgerlich und 
          sozial betreut sein wollen.
 In der zweiten Phase kommen Familien, die soziale Hilfen benötigen 
          und vielfach erhalten.
 Die dritte Phase, in der wir uns befinden, bringt eine starke Vernetzung 
          mit der örtlichen Pastoral.
 FeuerwehrpastoralDie Zeit der Feuerwehrpastoral sieht die italienischen Priester 
          an der Seite ihrer Landsleute nach Deutschland kommen. Vielfach beschreibt 
          Vito Lupo, wie sich die italienischen Priester nicht hinter Institutionen 
          und Mauern verstecken, sondern ihre Herde dort aufsuchen, wo sie sich 
          befindet:
 In den Fabriken, in den Baracken, auf den Baustellen – immer nahe 
        bei den Menschen.
 Familien kommenErst mit der verstärkten Ankunft von Familien wurden Gemeindestrukturen 
          und eigene Räume zunehmend wichtiger. Im Vordergrund stand vielfach 
          die soziale Herausforderung.
 Angesichts der vielfachen Notwendigkeit, dass beide Eltern einer Berufstätigkeit 
          nachgehen, wurde die Betreuung und Förderung der Kinder zu einer 
          zentralen Aufgabe. Besonders hervorzuheben ist die Errichtung der Doposcuola in Saarbrücken (ab 1969, S. 267), wo italienische Kinder betreut 
          und gefördert werden konnten. Die Doposcuola bildete eine Bündelung 
          der Kräfte von Land, Kirche, Konsulat, Eltern und Kommunen; eine 
          Kooperation, die im Gegensatz steht zu vielen verzettelten Einzelaktionen 
          zur Förderung der Bildungschancen von Migrantenkindern an anderen 
          Orten.
 Von 1963 – 1981 führten Ordensschwestern in Essen einen Kindergarten. 
          Padre Alessandro Rossi gründete in Fellbach im Jahr 1968 
          eine Kindertagesstätte.
 Bemerkenswert sind auch die Gründung einer Selbsthilfegruppe 
          italienischer Querschnittsgelähmter in Heidelberg (S. 281) und 
          die Betreuungskontakte einer italienischen Gemeinde in Schwäbisch-Gmünd 
          zur Behinderteneinrichtung Haus Lindenhof über viele Jahre (S. 320). 
          Sehr wichtig war auch die Präsenz italienischer Priester in Gefängnissen 
          und Krankenhäusern. Einzelne Ansätze zur Präsenz in Schulen 
          gab es durchaus, zumindest im italienisch-muttersprachlichen Unterricht. 
          Insgesamt muss aber gesagt werden, dass die deutsche Schule und auch ihr 
          Religionsunterricht der Mehrzahl der italienischen Seelsorger eher fremd 
          geblieben ist.
 Im Zusammenhang mit 
        der komplexen Situation der Ital. Mission in Berlin (allein 6000 in der 
        Gastronomie Beschäftigte) kommt zur Sprache, dass im Spannungsfeld 
        der Migration viele italienische Katholiken sich anderen religiösen 
        Gruppen zugewandt haben: Adventisten, Freikirchen, Zeugen Jehovas. Durch 
        konfessionsverbindende Ehen zwischen italienischen Katholiken und Partnern 
        anderer Konfession wird die Ökumene zunehmend ein wichtiges Thema. 
        Auch die immer häufiger vorkommenden bikulturellen und bireligiösen 
        Eheschließungen stellen die Pastoral vor neue Herausforderungen.
 Don Vito Lupo weist immer wieder darauf hin, dass eine erfolgreiche Seelsorgsarbeit 
        meist mit einer guten Zusammenarbeit zwischen den Priestern und den Sozialbetreuern 
        der Caritas verknüpft war. In vielen Fällen arbeiteten die Missionen 
        nach einem zuvor erstellten pastoralen Konzept. In manchen Regionen konnte 
        im Lauf der Zeit die muttersprachliche Seelsorge zurückgefahren werden, 
        weil die italienischen Katholiken sich teilweise oder ganz in die örtlichen 
        Kirchengemeinden eingebunden haben, was z.B. die Vorbereitung der Erstkommunion 
        betrifft (Göttingen S. 123).
 Bei seiner Beschreibung italienischer 
        Gemeinden spart Don Vito Lupo auch Kuriositäten nicht aus: Ein sizilianischer 
        Arbeiter in Beckum/Dortmund gab sich fünf Jahre lang erfolgreich 
        als "Padre Angelo" aus, zelebrierte Messen, taufte, nahm die 
        Beichte ab, leitete ein Altenheim und eine Klinik. (S. 159) AnalysenIm Anschluss an die Dokumentation der geschichtlichen Entwicklung der 
        insgesamt 103 Missionen in Deutschland geht Don Vito Lupo auch systematisch 
        analysierend an die italienische Seelsorge in Deutschland heran.
 Da die nach Deutschland emigrierten Italiener in den vergangenen 50 Jahren 
          mehrheitlich aus Süditalien zugewandert sind, untersucht Don Vito 
          Lupo die Eigenart der süditalienischen Religiosität (S. 
          447). Schließlich analysiert er die wichtigsten pastoralen Bereiche der 
          Auswanderungsseelsorge für die pastorale Praxis und deutet Perspektiven 
          für die Zukunft an. PerspektivenFür die Zukunft der muttersprachlichen Pastoral wertet Don Vito Lupo 
          die Bildung muttersprachlicher Gemeinden im Verbund einer Seelsorgeeinheit als „wegweisend“ (S. 317), wenn er auch einschränkt, 
          dass die daraus gewonnen Erfahrungen noch nicht abschließend ausgewertet 
          werden können.
 Für ebenfalls wegweisend hält der Autor die pastorale Lösung 
          für Essen und Umgebung: Dort gibt es eine Seelsorgestelle 
          mit drei Geistlichen, welche die andern Schwerpunktfilialen im Umland 
          wöchentlich seelsorgerlich betreuen. (S. 151)
 Realistisch für die Zukunft erscheint das Modell Hanau aus 
          dem Jahr 1995, als absehbar war, dass kein italienischer Priester mehr 
          ausschließlich für Hanau zur Verfügung stehen würde: 
          Durch weitgehende Kooperation mit den örtlichen Gemeinden und der 
          Erledigung allgemeiner pastoraler Aufgaben durch einen Pastoralreferenten 
          entstand eine praktikable muttersprachliche Seelsorge. (S. 199).
 In Wiesbaden wurden schon im Jahr 1978 die Weichen Richtung Zukunft 
          gestellt durch eine enge Partnerschaft zwischen der Pfarrei Maria Hilf 
          und der italienischen Seelsorge. Die dabei erarbeiteten Leitlinien besitzen 
          hohe Aktualität und können Vorbild für neue Lösungen 
          sein. (S. 222-223)
 Was noch zu tun istSelbst eine so umfangreiche Arbeit kann nicht alle Aspekte des Themas 
        abdecken. Es bleiben einige wenige Lücken, die auf eine zukünftige 
          Bearbeitung und Forschung warten.
 Ein wichtiges Ziel der vorliegenden Arbeit war auch, die – vor allem 
          italienischen – Priester zu würdigen, die mit hohem Einsatz 
          von Kraft, Gesundheit und Phantasie die Seelsorge an den italienischen 
          Katholiken geleistet und vorangetrieben haben. Damit nimmt Don Vito aber 
          auch in Kauf, dass die Leistungen der Schwestern (und damit: der Frauen) 
          in nur sehr geringem Maß auftauchen; auch die Leistungen einzelner 
          Migranten oder ganzer Gruppen und Gemeinden kommen kaum zur Sprache. Ein 
          Priester, der nur wenige Wochen Vertretung in einer Mission gemacht hat, 
          wird namentlich genannt, während die oft jahrelange und konzeptionell 
          herausragende pastorale Arbeit einer Ordensschwester nicht auftaucht.
 Versteht man Inkulturation als einen wechselseitigen Lernprozess, so 
          wäre interessant zu prüfen, was die deutsche Kirche von den 
          Erfahrungen der Missionen und ihrer muttersprachlichen Seelsorge lernen 
          kann. Die Missionen waren ja nicht zuletzt auch Orte, wo Konzeptionen 
          von Pastoral entworfen und praktiziert wurden, auch im Austausch mit pastoraler 
          Theorie und Praxis italienischer Herkunft, mit manchen Fassetten, die 
          für die deutsche Pastoral (und Pastoraltheologie) Impulse geben könnten. Neue HerausforderungenEs ist Don Vito’s Verdienst, mit der vorliegenden Arbeit eine erste 
          umfassende Dokumentation geschafft zu haben. Einfache Antworten wird es 
          auch in Zukunft nicht geben. Bei ca 30 000 neu zugewanderten Italienern 
          jährlich gibt es auch weiterhin eine erste Generation, die 
          auf geeignete Weise in ihrer Muttersprache angesprochen werden will. Jede 
          muttersprachliche Gemeinde steht schon heute vor der Herausforderung, 
          Personen und Familien zu vereinen, die ganz unterschiedliche Grade an 
          Integration bzw. Inkulturation aufweisen.
 Nach wie vor ist die Frage der sozialen Integration der ausländischen 
          Kinder nicht gelöst, wie Pisa eindrücklich nachgewiesen 
          hat. Unter den italienischen Immigranten ist die Arbeitslosigkeit vergleichsweise deutlich höher.
 Deshalb ist es verfrüht zu glauben, die Integration der italienischen 
          Katholiken sei insgesamt vollzogen, davon abgesehen, dass eine vollkommene 
          Angleichung im Sinne einer fruchtbaren Vielfalt nicht wünschenswert 
          sein kann. Neu ist aber, dass die Verantwortung für die muttersprachliche 
          Seelsorge - sei es deutsche, italienische oder anderssprachige - bei allen 
          liegt, und das ist ein großer Fortschritt.
 (Thomas Raiser) |